Klimawandel auf psychologisch



Millionen deutscher Familien feiern Weihnachten. Eine schöne, uralte Tradition!

In meiner fünfteiligen Saga »Gute Tochter, schlechter Sohn« wird auch jedes Jahr das Weihnachtsfest gefeiert.
Erschreckend, wie schnell sich das Leben verändern kann:




Teil 1   Kapitel 24 Schön war die Zeit!

Ich-Erzählung



Am Heiligen Abend kam ich um 12 Uhr nach Hause. Für Caroline legte ich das Fleisch auf den Küchentisch, welches sie vorbestellt hatte. »Jetzt feiern wir wieder schön Weihnachten!« Caro kam auf mich zu. Wir nahmen uns in den Arm. Die Jungs strahlten uns an. Wir tranken gemütlich Kaffee und Kakao und dann ging es los: Familie Caroline und Michael Schneider kochte für das Fest. Chefköchin Caro brutzelte für sich allein hin. »Nee, viele Köche verderben den Brei! Das iss so!«, scherzte sie mich an.
Eine alte Tradition in meiner Familie war die Klößchensuppe meiner Oma. »Die hat Opa Josef schon gegessen und Großtante Josi in Görlitz auch.« Die Jungs wussten, was zu tun war. Mit der uralten Zwiebackreibe meiner Oma mussten 20 Zwiebäcke gemahlen werden, jeder durfte 10 übernehmen. Wir naschten heimlich an dem Klößchenteig und bekamen Schimpfe von der Küchenchefin. »Hey, hey, das dürft ihr nicht essen, da sind rohe Eier drin.« Ich drückte leicht ein Auge zu und schüttelte unauffällig mit dem Kopf. »Ich hab’s gesehen. Oski!«
Den Nachtisch zauberte ich ebenfalls mit den Jungs. So ganz schlecht war mein Kochtalent auch nicht. Die vorangeschrittene Zeit und der sich breitmachende Duft des Weihnachtsmenüs verführten uns drei immer wieder, eine gutgefüllte Zeigefinger-Portion aus der Rührschüssel zu entwenden. Die Menge schwand ungemein! Als Zweitchef ordnete ich an: »Für die Orangencreme aus frischen Orangen nehmen wir die kleinen Schälchen, die ganz Kleinen.« Caro grinste sich einen ab.
Der Dreimeterbaum stand schon am Vorabend im Wintergarten. Dem Brauchtum in meiner Familie nach schmückten wir den Baum am Heiligen Abend. Jan stand stolz auf der Treppenleiter. Er war der Oberschmücker. Alex baute die Krippe auf. Ein Schaf versteckte sich im Stall. Der Esel schrie, ritt hoch bis zum hintersten Couch-Gipfel und schrie erneut über das ganze Heilige Land. Das Christkind wurde mit dem Playmobil-Krankenwagen angeliefert.
Caro kam mit einem Tablett zu uns, mit warmen Getränken und leckerem Weihnachtsgebäck. Alex holte seine wiesengrüne Kuscheldecke, auf der alle 20 Schafe und alle vier Schneiders Platz fanden. Wir saßen mit den Hirten auf dem Feld. Von meiner Großmutter kannte ich die Ordnung in und vor der Krippe. Nur widerwillig, mit lustigen, aber auch weihnachtlichen Geschichten, konnten wir Alex überreden, Maria und Josef, die Hirten, Ochs und Esel auf die Plätze zu stellen, auf denen sie schon seit Jahrhunderten stehen.

Mit einem stimmungsvollen, sehr langsam gespielten »Stille Nacht« begann bei uns Schneiders die Bescherung. Jans Profi-Teleskop und Alex Bauernhof standen hübsch verpackt unter dem leuchtenden Weihnachtsbaum. Überall standen Kerzen, nur über dem Tisch der großen Tafel schien ein gedämmtes Elektrolicht.
Unzählige Stunden aßen wir gemütlich und gemeinsam mit der Familie. Das Abendessen am Heiligen Abend war das Highlight des Jahres!

...


Hätte eine Frau für Michael gesagt: »Nächstes Jahr ist deine Familie zerstört und du bist ganz alleine.«, er hätte sie für geisteskrank erklärt.

Und dann geschah dies:
Ein Jahr später:


Teil 3   Kapitel 14 Stille Nacht
Erzählstil


...
Er legte sich auf das Bett und starrte die kahle, weiße Decke an. In einer Stunde war die Vesper. Daran wollte er gar nicht erinnert werden. »Warum hast du da nur zugesagt? Da wird gleich stundenlang vor dem Essen gebetet. Bei denen muss man doch immer so gute Manieren haben. Und die fragen so viel. Wo man her kommt. Was man macht. Warum man auf Reise ist ...«
Michael lag auf dem schmalen Bett aus dunkelbraunen Eichenbrettern, kreidebleich, die Hände gefalten auf der Brust. Die Matratze war hart, das Betttuch weiß wie Schnee. Was hatte er sich hier nur angetan. Gleich würde er an einem langen Tisch gemeinsam mit Nonnen essen. Er fantasierte vor sich hin: »Man wird dich ermahnen, wenn du nicht das Tischtuch auf deinen Oberschenkeln liegen hast. Man wird dich ausfragen, tief in dein Gewissen reden. »Warum haben sie gesündigt? Warum haben sie Ehebruch begangen? Sie müssen an der Ehe festhalten ...« 
Die ganze Heilige Nacht wird er sich rechtfertigen, wird er seine missliche Lage begründen müssen und doch kein Verständnis für seine Mühen bekommen. 
Er stand auf, streifte zweimal mit den Händen durch sein Haar, zog die Winterjacke über und ging zum Hauptgebäude. 
Der Wind hatte nachgelassen. Es herrschte eine andächtige Stille im Ludwig-Donau-Main-Kanal-Tal. Michael ging über den Hof mit den vielen alten Stallungen, in denen einst das Vieh des Klosters weilte. In denen Ochs und Esel in der Weihnacht eine besondere Gabe Futter bekamen. Mensch und Tier waren so nah beieinander, waren sich vertraut, waren wie Freunde.
Seine Füße schritten durch das gemütliche Gässchen zum Speisesaal. Die Rezeption war nicht besetzt. Durch den Gang seitlich an der Empfangstheke vorbei war ein leises Stimmengewirr zu hören. Michael folgte diesem und betrat den Saal. An einem langen Tisch saßen zwei Familien mit vier Teenagern. Hinten in der Ecke speiste ein älterer Mann. Rechts an der Wand unterhielt sich ein Ehepaar im besten Alter. Daneben war ein Tisch mit einem Gedeck und einem Schildchen: »Herr Schneider, eine Person«.
Keiner der Gäste schaute Michael an, »was will der denn hier?« »Warum kommt der erst jetzt?« Das Flair des Saales erinnerte eher an eine Jugendherberge als an eine Klosterstube. Die Tischgruppen waren aus hellem Holz. Der Raum wirkte modern und schlicht. Von dem Christkind war keine Spur. Nur der runde Adventskranz mit vier roten brennenden Kerzen erinnerte an das Kindelein in der Krippe. 
Einsam und verlassen speiste Michael Schneider fern von seiner Heimat, weit entfernt von seinen Kindern im schlichten Klostersaale. Eine der Mütter vom langen Tisch schaute den traurig wirkenden Oberstaufenwälder an. »Der sitzt da – so ganz allein. Soll ich ihn fragen, ob er sich zu uns setzen möchte?« Der leere Blick dieses ausgelaugten Mannes zeigte ihr aber wohl, dass er allein sein wollte. 

Die Weihnachtsglocken fingen zu läuten an. Die ersten Gäste standen auf. Michael nahm sein letztes Brot, biss zweimal rein und steckte sich das letzte Stückchen noch in den Mund. Eiligen Schrittes verließ er vor den andern den Speisesaal. In der Klostergasse herrschte ein reges Treiben. Viele Menschen kamen ihm entgegen. Der Innenhof war voll mit Autos. Durch das Tor konnte man erkennen, dass sich der Parkplatz vor der Mauer zügig füllte. Menschen! Kinder, Vater und Mutter! Michaels Schritte wurden immer schneller. Endlich war er wieder in seiner bescheidenen Kammer. Die vielen Glocken waren immer noch zu hören. Ein wahres Festtagsgeläut!
Michael war nicht zum Feiern zu Mute. Die Umgebung, die spärliche Beleuchtung im Klostergemäuer, die milden Temperaturen ließen ihn nicht viel über das beliebte Familienfest nachdenken. Er setzte sich an den Tisch. Er blickte mit finsterer Miene nach draußen in die Dunkelheit. Seine Gedanken konnte er nicht zu Papier bringen. Seine Hände wollten einfach nicht schreiben. Der einsame Vater zweier Kinder legte sich wieder auf das Bett und starrte die Decke an. Dann fiel er in einen tiefen Schlaf. 
Das Schwenken der schweren Kirchenglocken holte ihn aus seinen Träumen zurück. Oder war dies alles nur ein Traum? Er versuchte, wieder zu schlafen. Doch das Geläut weckte ihn immer mehr. Es waren diesmal noch mehr Glocken im Einsatz. 
»Hier hast du dir auch einen Murks ausgedacht!«, fluchte er vor sich hin und stand wieder auf. Es war halb elf. Das Schreiben gelang ihm weiterhin nicht. 
Michael zog sich an und ging an die frische Luft, ging direkt durch das Westtor in weltliche Natur. Wohin sollte er gehen? Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und erkannten einen schmalen Pfad, der in den Wald hinter dem Kloster führte. Ohne Ortskenntnisse betrat Michael den Wald.
Die kahlen Bäume standen stumm in der stillen Nacht. Michael reihte sich dazu. Gemeinsam mit ihnen schaute und lauschte er in diese besondere Nacht. Abertausende Sterne funkelten aus dem hohen Himmelszelt. Auf der Höhe stand eine Bank. Der einsame Michael setzte sich und bestaunte die größte Lichterkette, welche er je gesehen hatte. Sein Blick zog nach Süden. Seine Augen suchten durch die Tannen der gegenüberliegenden Talseite vom Ludwig-Donau-Main-Kanal die weit entferntesten Sterne. Diese würden seine Kinder im fernen Österreich auch sehen. Sie liegen in ihren Betten, schauen aus dem Fenster und bestaunen ohne es zu wissen gemeinsam mit ihrem Papa den wundervollen Weihnachtshimmel der Heiligen Nacht. Michael atmete einmal tief durch und strahlte in die Dunkelheit.

Die Glocken fingen erneut an zu läuten. Es war kurz vor 23 Uhr. Wieder klang das komplette Geläut durch das breite Tal. Seine Füße standen still. Seine Ohren lauschten den stimmungsvollen Klängen. Dieses Mal klangen sie anders. Sie klangen wie auf dem Schützenfest von Schüttkirchen. »Die sind am Rieten.« Michael spürte ein Stück Heimat. 
Zufrieden setzte er seine Weihnachtswanderung fort. Der Weg endete am Nordtor der Klosteranlage. 
»Nun wird es aber Zeit!« Michael erschrak! Ein alter Mann in einem langen schwarzen Mantel zog die Tür hinter ihm zu und verriegelte diese mit einem Festtagsschlüsselklimpern.
Michael erblickte das Haupttor der Klosterkirche. »Die Kirche ist immer geöffnet.«, hatte die freundliche Nonne zu Beginn des Aufenthaltes gesagt. Der Gast aus dem Oberstaufenwald hatte die verzierte Klinke bereits in der Hand. Dann war ihm die Sache nicht ganz geheuer. Er wollte umkehren. Ihm war unheimlich. Mitten in der Nacht in einer Kirche, das war selbst ihm mulmig zumute. Eine Umkehr war aber nicht mehr möglich. 
»Nach Ihnen, junger Mann.« Der große Mann mit dem langen schwarzen Mantel stand wie eine unüberwindbare Mauer hinter ihm. Links und rechts bauten sich die mächtigen Portalsteine auf. Sein Körper stand in einem dunklen Halbkreis. Nur die übergroße Holztür mit ihren uralten schmiedeeisernen Beschlägen bot ihm eine Flucht. Seine Hand drückte die schwere Eichentür auf. Ein Meer von Kerzen strahlte ihm entgegen. »Was wollen die denn alle hier?« Die Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt. Vor jedem Besucher stand eine Kerze. Am Altar standen zwei riesige Weihnachtsbäume mit unzähligen Lichtern. Michael stand da im Kirchenschiff. Er stand da und staunte, wie einst sein Sohn im Sommer in der Kirche in Rothenburg. Überall funkelte und strahlte es, als habe sich der Sternenhimmel auf die Erde gesenkt. 
Michael Schneider ging ein paar Schritte. Weit vorne standen Schilder: »Reserviert für unsere Kommunionkinder«, »Reserviert für Eltern und Großeltern«. 
Michael Schneider war zuletzt am vierten Advent in einer Messe gewesen, davor auf Jans Kommunion. Nun war Weihnachten. An Weihnachten waren Caro und Michael Schneider immer mit Jan und Alex in die Kirche gegangen. 

In diesem uralten Gotteshaus war es kalt. Ein leichter Wind zog umher. Die Luft war feucht. 
Ohne sich umzuschauen, rückten drei Männer auf der rechten Seite auf, um Michael einen Platz anzubieten. Mit einem nickenden Lächeln setzte er sich zu ihnen. Die Sitzbänke waren beheizt. Wenn man in den Reihen saß, war man von einer warmen Lufthülle umgeben. 
Die leichte Unruhe, die leisen Gespräche verstummten. Ein Mann lachte kurz auf. Dann war absolute Ruhe im Kirchensaal.

Ein Frauenchor begann zu singen. Michael Schneider saß da. Es war ein feierlicher Gesang, der über mehrere Strophen ging. Der Refrain gefiel Michael: »... rette meine Seele ...«
Anschließend erklang ein lateinisches Lied aus tiefen Männerstimmen. Danach sangen wieder Frauen, wohl die Nonnen des Klosters, ein langes Gebet. 
Die Orgel donnerte los. Das Geburtstagskind zog ein. Reihenweise standen die Menschen auf, sobald sie mit dem Träger des jahrtausendealten Geburtstagskindes auf gleicher Höhe waren. Das Licht zog mit den vielen Leuten in festlicher Kleidung ein, welche den vorderen Teil der Kirche füllten. 
Aus den Orgelpfeifen erklangen stimmungsvolle Töne. Aus den ersten zarten Melodien entstanden meisterliche Werke. Die Königin der Instrumente verstummte kurz und die ganze Gemeinde sang: »Stille Nacht, Heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht ... schlaf in himmlischer Ruh ... tönt es laut von fern und nah ... da uns schlägt die rettende Stund ...«

Eine Frau las vor: »Am Anfang war das Licht und das Licht war bei Gott und Gott war das Licht ...«
Die Frauenstimmen sangen ein hebräisches Lied.
Ein Mann trug vor: »... Wenn sie euch nun überantworten werden, so sorget nicht, wie oder was ihr reden sollt; denn es soll euch zu der Stunde gegeben werden, was ihr reden sollt ...«

Michael kniete in der Bank. Es war eine besondere Stille unter dem Volk. Eine Glocke viele Meter über ihm schlug einmal. 

Nach geschlagenen zwei Stunden verließ er mit der Menschenschar die warme Kirche durch die Tür, welche er nicht hatte betreten wollen. Eine fröhliche Menschenschar! Man winkte und lächelte sich zu, wünschte sich gegenseitig eine gesegnete Weihnacht. Michael, mitten in der Menschenmenge ging mit diesen zurück zu ihren Fahrzeugen. Er lächelte, wie er schon lange nicht mehr gelächelt hatte. Auch er wünschte »Gesegnete Weihnacht«, wie es an dem Abend wohl in der Gegend üblich war. 
Der Mann mit dem langen schwarzen Mantel stand am Gassenrand, lächelte Michael an und rief zu ihm herüber: »Gesegnete Weihnacht, junger Mann!«

Eiligen Schrittes betrat Michael seine schlichte Kammer. Er hing die Jacke an den Haken, schob seinen Schreibblock an die Seite und öffnete den Laptop. Er fuhr diesen hoch und begann zu schreiben. Er schrieb die ganze Nacht. Wie der Organist an der großen Orgel haute er in die Tasten und schrieb die ganze Nacht. 

Es war die Geburt seines Buches. Am Anfang war das Wort.

»Sorge dich nicht, wie oder was du schreiben sollst – schreib!«


 

Teil 3   Kapitel 9   

Heut’ Nacht will ich tanzen! 


Im Morgengrauen kam sein Freund Le-Ed, eigentlich Leo-Eduard, mit einem Reisetrolli und einer Soundbox zum Zwischenlager. Aus der Box trällerte gemütlich » ... und was macht de Mutter? ...« von   Black Fööss. Gastwirt Voss chauffierte die sieben Oberstaufenwälder mit seinem Shuttlebus zum Bahnhof. Beim Einsteigen in den Wagen sagte Markus: »Hab kaum geschlafen, die Kurze hat die ganze Nacht geschrien!«

»Dann muss du dir eine Mietwohnung nehmen!«

Alle Männer fingen laut an zu lachen. Michael war auf dem Wege der Besserung. Er konnte wieder über sich selbst scherzen. 

Die geheime Reise endete in Winterberg. Drei Tage war Party angesagt. Wie jedes Jahr wurden die Taschen auf das Zimmer gestellt und man suchte sich ein nettes Plätzchen zum Biertrinken. 
Am frühen Abend sah man die sieben Oberstaufenwälder im übergroßen Partyzelt auf dem Marktplatz. Jeder hatte eine pinke Sonnenbrille auf, die man am Eintritt geschenkt bekam. Sie waren nun zwölf Stunden auf den Beinen, die sie aber nicht mehr so ganz unter Kontrolle hatten. Drei Stunden später waren sie nur noch zu dritt. Die anderen zog es in das Quartier. Kollege Stefan hatte einen Mitbewerber als Landwirt gefunden, mit dem er sich an der langen Theke austauschte. Kollege Chris und Michael Schneider vergnügten sich auf der Tanzfläche. Nach einer Weile zog Chris mit einem Mädel davon Richtung Cocktail-Bar. Der DJ fand die richtigen Songs, um die Partygemeinde in Stimmung zu bringen. Ausgelassen wurde getanzt und geflirtet. Für Michael waren die Damen zu jung. Oder doch nicht? Warum nicht mit einer 20-jährigen eine neue Familie gründen? Michael steckte sich die Brille ins Haar und zappelte mit dem jungen Gemüse. Durch die vielen Partyeinsätze mit seiner ehemaligen Freundin, Traum- und Ehefrau Caro Schneider, geborene Schmidt, konnte er sich professionell zu den verschiedenen Takten der Songs bewegen. Dies verschaffte ihm Aufmerksamkeit, bei den Mädels, aber auch bei den jungen Herren, welchen die passenden Hüftschwünge nicht gelingen wollten, wenn sie sich denn überhaupt bewegten. Einige der jungen Typen schauten immer mal wieder zu Michael rüber. Schauten sie sich die individuellen Schritte ab? Wenn Michael in Fahrt war, konnte er gut abdancen. Eine Freundin sagte früher mal zu ihm: »Du tanzt wie Michael Jackson!«, und himmelte ihn an. In der Zeit hatte er nüchtern getanzt und nur noch Augen für Caro Schmidt. 

Oder war es die Brille im Haar, welche die Blicke auf sich zog? Auf der Tanzfläche waren nur sehr wenige Menschen, die so eine kitschige, aber für diesen Abend bei den Lichteffekten coole Sonnenbrille vor den Augen, am Shirt geklemmt oder in den Haaren gesteckt hatten. Dieses »Schmuckstück« lenkte ab von dem Mut, sich einfach so zu bewegen, wonach einem gerade zu Mute ist: »Wenn ich so eine Brille hätte, könnte ich auch gut tanzen.« Ähnlich der Neidbremse: »Wenn ich einen Porsche hätte, säße neben mir auch eine heiße Blondine im Auto.«
Andererseits stieg das Begehren, endlich in den Besitz so einer Billigware aus China zu gelangen. Ein jüngerer Kerl, er war einen halben Kopf größer als Michael, nahmen sich einfach das Teil aus seinem Schopf. Ohne groß nach den Greifern zu schauen, fuhr Michaels linke Hand raus, krallte sich sein Eigentum zurück und steckte sie wieder sorgfältig auf seinen Vorderkopf. 
Die berechtigte Frage kam nun auf, warum nur einige so ein Accessoire ausgehändigt bekamen. Michael dachte sich dies bestimmt auch beim Blick durch die feiernde Menge, auf der Suche nach einem Ü-Dreißig-Mädel. 
Wie aus dem Nichts kam eine sehr zierliche Frau mit langen blonden Haaren aus dem Gedränge hervor. Sie war mindestens 40. Die eng aneinander stehenden Personen gaben der viel zu angetrunkenen hübschen Frau Halt. Um Michel herum war etwas mehr Platz. Sie drohte mit dem ersten Schritt in die Leere umzufallen. Michael war Feuer und Flamme und winkte ihr zu. Sie lächelte ihn an, stolperte zwei Schritte auf ihn zu, nahm sich die Brille und stecke diese in die gleiche Position in ihr Haar: »Na, wer bist du denn?« Sie schaute ihn verführerisch an, legte ihre Hände auf seine Schultern und begann frech mit ihm zu tanzen. Michael griff sie fest an der Hüfte. Sie fanden schnell einen gemeinsamen Rhythmus. 
Der DJ legte einen neuen Song auf: »I love Rock’n roll« Bei der attraktiven Unbekannten war kein Halten mehr. Sie sprang Michael an, umklammerte ihn fest mit ihren Beinen. Mit ihrem Temperament gab sie nun den Takt vor, den Michael mit Freude unterstützte. Sie setze ihrem Tanzpartner die Sonnenbrille wieder auf, warf die Hände nach oben und war in bester Partylaune. Ihre langen Haare peitschte sie durch die Luft. Michael ging schwingend in die Hocke. Die Frau, die ihn mit den Beinen noch fest im Griff hatte, ließ sich langsam nach hinten fallen. Dabei rutschte das knappe weiße Shirt immer weiter nach unten. Ihr trainierter, gebräunter Bauch mit dem Bauchnabelpiercing kamen zu Vorschein. Michael griff nach dem breiten braunen Gürtel, um dieses wilde Wesen einigermaßen im Zaume zuhalten. Der große Typ, der ihm schon einmal die Sonnenbrille entwendet hatte, ergriff seine Chance. Er zog ihm die Brille von der Nase runter: »Die brauchst du ja jetzt nicht mehr!«
Es bildete sich ein großer Kreis um die beiden. Michael fühlte sich frei. Er genoss jede Sekunde. Sie tanzten. Mit ihrer spontanen Einlage unterhielten sie den ganzen Saal. Der Abend schien vielversprechend zu werden. 
Der Song lief aus. Die wilde Rockerbraut löste sich vom fremden Körper, gab einen Kuss auf den glänzenden Hals und verschwand zielstrebig in der Menge. 
Michael Schneider schloss die Augen und tanzte entspannt vor sich hin. Er ging zur Toilette. Er suchte Chris. Er holte sich in aller Ruhe einen leuchtenden Cocktail. Er tanzte noch einmal ab. Aber die wilde Rockerbraut ward nirgends mehr gesehen. 


Am anderen Tag hatten die jungen Männer einen Heidenspaß. Es ging mit dem Planwagen über die Hochheide durch ein enges Tal auf einen gemütlichen Weihnachtsmarkt um eine kleine Kapelle. Die Herren aus dem Oberstaufenwald fühlten sich direkt heimisch und tranken mit anderen Männern aus dem kleinen Örtchen oder der Umgebung. 
»Gefällt mir richtig gut, euer putziger Weihnachtsmarkt«, sagte Michael zu einem der Veranstalter. Er trug ein Button an der Brust mit dem Dorflogo.
»Adventsmarkt! Das ist kein Weihnachtsmarkt«, führte der Mann mit dem Lodenhut aus.
»Ja, ein putziger Adventsmarkt. Gefällt mir sehr! Wir haben jedes Jahr den Martinsmarkt bei uns im Ort. Der ist so ähnlich, nur nicht so urgemütlich wie bei euch hier. Da backe ich immer geräucherte Fische.«
»Geräucherte Fische?«, fragte der freundliche Herr direkt nach.
»Das ist eine Spezialität aus meiner Familie. Ein Rezept von meiner Urgroßmutter. Die Forellen werden mit einer Marinade bestrichen, in einen hauchdünnen Teig eingewickelt und dann gebacken. Mein Vater und ich haben uns einen Holzofen auf einem Anhänger gebaut.«
»Mmh, das hört sich aber lecker an. Hast du nicht Lust, das Mal bei uns hier zu machen? Der Ofen ist doch mobil.«
»Da fehlt mir die Zeit zu. Ich bin beruflich sehr eingespannt.«
Der Mann mit dem Lodenhut ließ sich nicht abwimmeln, nahm einen Bierdeckel und schrieb seine Handynummer hierauf. Michael kamen sofort die Bilder von dem Bierdeckel in den Kopf, auf den er vor vielen Jahren seine Handynummer für seine Traumfrau drauf geschrieben hatte. Der Alkohol hielt jedoch seine Stimmung, seine gute Laune. 
Der Mann mit dem Lodenhut steckte den Bierdeckel frech in Michels rückseitige Hosentasche. »Du kannst es dir ja überlegen. Und dann rufst du mich einfach an. Wir haben hier auch ein kleines Backhaus. Da wird Brot drin gebacken.« Seine ausgestreckte Hand zeigte auf das kleine Fachwerkhäuschen. »Das ist wohl das kleinste Backhaus von Deutschland. Da hinter der Vikarie steht es. Muss du dir mal angucken.«
Michael löste sich von der Theke des Bierzeltes neben der Kapelle und schlug mit leichten Haken den beschriebenen Kurs ein. Er schlenderte an einer kleinen Schmiede vorbei. Dann sah er das schnuckelige Häuschen. Ein junger Mann in Michaels Alter schob mit einem Holzschieber Teiglinge in den Ofen aus roten Ziegelsteinen. Eine Buchenhecke grenzte das Gebäude von der Straße ab. Ein anderer junger Mann blieb davor stehen und schaute dem Bäcker zu. Dieser hatte wie Michael schon leicht einen im Schuh: »Du hast ja einen Schützenhut auf.«
»Nein, das ist ein historischer Bäckerhut!«, gab der Arbeiter hinter der Hecke grinsend zurück. »Das ist ein Schützenhut. Das sehe ich sofort.«
»Nein, nein – so sahen im 18 Jahrhundert die Dorfbäcker aus.« Der Heckengast winkte kopfnickend ab. »Dann will ich morgen auch mal in der Backstube meinen Schützenhut aufsetzen.« Die beiden Männer lachten. Michael wollte sich in das Gespräch einbringen. Aber ein kleiner Junge kam durch den Garten zu dem Backhäuschen. »Papa, hast du noch Brot für uns?«
»Ja klar, guckt mal da auf dem Brettchen.« Die Mutter kam noch dazu. »Dann iss noch schnell eins und dann musst du in die Kirche. Wir müssen uns schon beeilen.« Sie grinste den Bäcker an. »Und wenn die fertig sind mit dem Krippenspiel, ist der Papa für euch zuständig. Die Mama geht heut feiern mit ihren Mädels.«
»Macht mal, ihr Mädels. Ich kredenze mir gleich noch ein lecker Weizen zum Feierabend und dann gehen wir rein. Ich hab noch von gestern Abend genug.« Michael lauschte noch ein wenig dem glücklichen Familiengespräch. Der Alkohol tat ihm gut. Sollte er regelmäßig dieses Getränk zu sich nehmen? 
In bester Laune verabschiedete sich die hübsche Frau und ging mit dem Jungen auf den Markt. Nun stand Michael allein an der Hecke. Er schaute dem Bäcker ein wenig zu. »Wie viele Brote passen da rein?«
»25.«
»So viele?«
»Wir haben eine Backfläche von 1,5 Quadratmetern.«
»Meiner hat nur eine Grundfläche von 80 mal 100 Zentimetern.«
»Das ist doch auch schon was!«
»Ich backe einmal im Jahr Forellen.«
»Oh! Auch nicht schlecht. Wir haben schon Brote, Kuchen, Pizza oder Zwiebelkuchen gebacken. Das Beste war ein Frischling von meinem Schwiegervater. Der ist Jäger.«
»Und läuft das Geschäft heute?«
»Das läuft immer. Der Markt ist alle zwei Jahre. Wir sind immer ausverkauft.«
»Machst du mit Vorbestellungen?«
»Da ist gar nicht dran zu denken. Die Leute reißen uns die Brote aus den Händen!«
»Oh, das kenne ich!«
»Manche würden sich am liebsten vor der Hecke kloppen.«
Ein weiterer Mann kam hinzu. Auch dieser hatte schon alkoholische Getränke zu sich genommen. Er stellte sich unter das Dach vor dem Backhaus und rief laut über den Markt: »Ausverkauft! Jeder bitte nur ein Brot!«
Die beiden Herren hatten ihren Spaß.














Teil 1   Kapitel 16    

Bertha's Brot


... gemütlich zog der weiße Rauch aus dem historischen Schornstein in den Himmel. 
Ob man es glauben mag oder nicht. Sie kam allen Ernstes und ging davon aus, dass ihr ein Brot hinterlegt worden wäre.
»Deine Schwiegermutter war gerade da und hat nach dem Brot gefragt.«, sagte mein Kollege, der mich im Backhaus unterstütze. »Ich habe ihr gesagt, dass sie in einer Stunde noch mal kommen müsse und nicht sicher sei, dass sie dann ein Brot mitbekommt, weil uns die Leute die Dinger aus den Händen reißen!«
»Und dass hat sie hingenommen?«
»Na klar – sie hat gesagt, dass sie gleich noch einmal wiederkommt, wenn du da bist!« 
Neue Ware kam aus dem Ofen. Es standen circa 40 Käuferinnen und Käufer vor dem Holzzaun. Mein Kollege, schon leicht angeheitert, gab folgende Information an die Kundschaft heraus: »Aus aktuellem Anlass bitten wir sie: Jeder bitte nur ein Brot. Die Ware ist heiß begehrt!« Das Feuer im Backraum wurde von mir wieder entfacht. 
Der angenehme Duft der frischen Backware zog umher und zog noch mehr Leute an. Der aufsteigende Rauch über dem eingeschneiten Dächlein bot ein malerisches Motiv für die Hobbyfotografen auf dem Markt.
Ich holte die nächsten Teiglinge. Alles musste sehr schnell gehen. Noch ein Brett und die nächste Ladung war wieder in dem kleinen Gärschrank neben dem Ofen. Die fertige Ware war längst wieder ausverkauft.
»Michael! ... Michael!«, von Weiten hörte ich sie rufen. »Michael!«, rief sie noch lauter, als ich mit leeren Brett in den Keller ging. »Ich bin sofort wieder da!«
Auf dem Weg zurück sah ich meinen Gehilfen mit wedelnden Armen. Vermutlich versuchte er, mir mitzuteilen: »Bleib bloß da! Bleib bloß da!«
Berthas rot angelaufen Kopf konnte ich von Weitem deutlich von den vielen eher gelblich oder weiß leuchtenden Lichtern unterscheiden. Sie war alleine auf dem Markt, Ludwig war auf Yachturlaub. Caro kümmerte sich um die Kinder. Auf dem Weg zum Backes dachte ich: »Na ja, wenn sie mich gleich fragt, ob ich eine zurücklegen kann, nehme ich eins abends mit nachhause und das kann sie haben. Aber es wird nicht offiziell zurückgelegt!« Meine gute Absicht kam Sekunden zu spät! Wie ein kleiner, hässlicher, giftiger Kobold schoss sie an dem Zaun, welcher Markt und Lagerfläche trennte vorbei. Sie erblicke mich. Wie ein trotziges Rotzblage, welches ihren Willen nicht bekommt, stapfte sie wütend auf der Stelle! Ich schaute sie freundlich an und wollte ihr nach ein paar Schritten mein Vorhaben mitteilen. Noch wusste ich ja nicht, dass diese gehässigen, verkrampften und verbohrten Grimassen mir galten. Ich war im positiven Stress und hatte an dem Tag keine Zeit für sie. Ich nahm mir ja oft Zeit für sie. Sehr, sehr viel Zeit! Wie kein anderer! Ich nahm mir oft so viel Zeit, wie es selbst ihr eigener Ehemann nicht tat. Nein, ihr lebensverneinendes Gesicht nahm ich zwar wahr, aber für die Frage »geht es dir nicht gut?« hatte ich keine Zeit. Sie war in Rage.
»Streiten ist ihr Hobby!« »Einen macht die immer fertig!« »Die streitet gerne!« Mit den Jahren reihten sich immer mehr schlechte Sprüche von Bekannten über Frau Bertha Schmidt aneinander. War sie wirklich so schlimm? Sie kommandierte gerne. Sie »führte« ihren Ludwig, der zuhause nichts sagen durfte! Außerdem bemutterte sie ihre Tochter weit über die Vollendung der Volljährigkeit hinaus. Sie prahlte über ihren Schwiegersohn, prahlte, wie gut wir uns verstehen würden. Wir verstanden uns. Zwischen Bertha und mir gab es keine Streitereien, die ganzen Jahre nicht. 
An diesem ersten Advent wollte sie Streit. Ich nicht! Die fehlende Zeit für eine Zankerei machte mich recht locker. Ich war im positiven Stress, gut gelaunt, voll in Aktion.
Ihre grenzenlose Wut ließ vermuten, dass ihr Kopf in wenigen Minuten mehr rauchen würde als die Ofenpfeife des Wagens. Fleißig und emsig zog der Rauch in die Luft. Aus ihrem Mund schoss das pure Gift:

»Hoffentlich bleiben sie dir im Halse stecken!«

...